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2022 Toxische Positivität

„Das wichtigste ist: Du musst jetzt positiv bleiben.“- Wer hat diesen gutgemeinten Ratschlag noch nicht gehört?

„Positiv am Arsch!“, habe ich damals zu meinem Vater gesagt, als er die ersten Reaktionen auf seine Krebserkrankung gehört hat. Auch ich steckte damals noch in meiner Therapie.
„…du musst gar nichts! Du hast gerade eine schlimme Diagnose bekommen. Lebensverändernd, bedrohlich.
Du hast Angst, wir haben Angst! Und daran ist erst einmal überhaupt nichts positiv!“
Ich untermauerte das mit einem flachen Handschlag auf dem Tisch und schmollte.

Krebs hat mir gezeigt, was wichtig ist“ „Neues Leben“ „Packte das Leben am Schopfe
Das Beste, was mir passieren konnte“ – manchmal könnte ich schreien, wie einseitig über so eine bedrohliche Krankheit gesprochen wird.

Aber wisst ihr was? Wut und Frustration sind ja auch Kanäle, die mobilisieren Dinge zu verändern und das ist mein Anlass über diese toxische Positivität zu schreiben.

Zunächst sortieren wir- allem voran: Es gibt keinen Königsweg und keine Vorbilder. Jeder Weg ist individuell- genau wie das Problem.
Ich plaudere deshalb aus meinem persönlichem Nähkästchen: Ich bekam die Diagnose und befand mich emotional im freien Fall.
Es dauerte einen Moment, bis ich Boden unter den Füßen hatte und noch einen weiteren Moment, bis ich mich orientiert hatte auf welchem Boden ich überhaupt gelandet bin.
Was ist ein Moment? In meinem Fall waren es Wochen- bei jemand anderem waren es vielleicht Stunden.
Das ist ein großer Unterschied.

In diesen ersten Momenten war ich unempfänglich für „good vibes only“ und auch dafür, irgendetwas Positives- oder Sinnstiftendes in meinem Schicksal zu erkennen.
Weiter noch: Als ich Beiträge gelesen habe, in denen Menschen in tiefer Lebensdankbarkeit über ihre Krebsdiagnose berichteten, wäre ich am Liebsten über den Tisch gesprungen.
Ich fühlte mich nicht getröstet, ich fühlte mich in meinen Schicksal übergangen und ich war wütend.

Ich sage euch wie es ist: Ich habe an mein Kind gedacht, an meine Eltern und meinen Mann. An den Verlust meiner Unbeschwertheit und an den ungewissen Stand und Ausgang meiner Krebserkrankung. Ich hatte sehr viele Sorgen und Kummer- und viel zu oft verselbstständigte sich die Gedankenschleife und ich habe mich in viele, viele schlimme Szenarien hineingedacht, die zwar nicht unmittelbar bevorstanden- von denen mir aber niemand sagen konnte, dass die Wahrscheinlichkeit dafür nicht zumindest bestünde.

Irgendwann fasste ich Fuß und begann das Beste aus dem zu machen, was ich hatte. Bis heute.
Ich begann wieder zu lachen, zu fühlen und tanzte barfuß über den Strand, das Herz voller Endorphine und Schmetterlinge im Bauch.
Ich bin ein positiver Mensch, grenzenloser Optimist und das bin ich schon immer gewesen.
Den Krebs allerdings, den würde ich gern aus meinem Lebenslauf (und den meines Vaters) streichen, wenn ich könnte.
Der Preis für dieses positive Empfinden ist hoch und alldem gehen schwierige Zeiten voraus.

Mir fehlt Ehrlichkeit in diesem ewigen Mindset- Dankbarkeitsparolen. Und Verständnis.
Denn wenn man immer nur die guten Dinge lebt und sucht, entsteht ein Stillstand.
Ausschließlich positives Denken schmälert die Tragik des Lebens und nimmt ihnen Ernsthaftigkeit.
Auch die Kommunikation nach außen gibt den Erkrankten keinen Mut, sondern erzeugt häufig Scham und Druck.
Während andere sich erhaben positiv geben, schämen sich andere über ihre Ängste zu sprechen, in der Befürchtung selbst im Umgang mit ihrer Krankheit Fehler gemacht zu haben. Und das ist sicherlich so nicht gewollt.

Wenn wir alle so positiv mit unseren Erkrankungen umgingen, wie es so oft dargestellt wird, wird aus der Frage „Wie geht es dir wirklich?“ immer nur ein „gut!“.
Wird das einer Erkrankung wie Krebs überhaupt gerecht?

Toxische Positivität so unreflektiert vorzugaukeln führt deshalb zu einer Verwässerung der Realität.

Das ist nicht richtig, denn es bagatellisiert die Ernsthaftigkeit der Krankheit und führt zu dem Irrglauben, dass Prävention sich nicht lohnt.
Denn hey- das Leben ist positiv und alle Menschen sind es in allen Lebensumständen auch.

Krebsprobleme lassen sich nicht wegschminken, nicht kleinreden und wir erfahren es am eigenen Körper, dass die Behandlung kräftezehrend und anstrengend ist.
Warum gestehen wir diesen „knockdown“ nicht auch unserer Seele zu?

Und wenn wir so offen und ehrlich zueinander sind, hilft vielleicht doch auch eine Prise Realismus, um sich einzugestehen, dass toxische Positivität kein positives Attribut sein kann.
Nicht jedem passt der Schuh gut.

Im Gegenteil – nur die, die sich angekommen in ihrem Schicksal fühlen, Aussicht auf gute Perspektiven haben und hin und wieder am Honig des Lebens geleckt haben, profitieren von der toxischen Positivität, weil sie die süße Quelle ist, die sie begleitet und scheinbar niemals versiegt.

Allen anderen laufen sich in diesem Schuh nur Blasen.
Es ist, als würde man allen anderen erzählen, wie köstlich der Honig schmeckt, ihnen aber verschweigen zu sagen, wo und wie sie diesen finden.

Und eben dieses fehlende „wie“ macht die toxische Positivität so gefährlich, weil sie suggeriert, dass nur das Individuum für sein emotionales Lebensglück verantwortlich ist und ebendieses völlig unabhängig von äußeren Einflüssen zu sein scheint.
„und…..“, so heißt es weiter – „….ist eine emotionale Ausgeglichenheit ja, wie wir alle wissen, ein Faktor körperlicher Gesundheit“.

Es ist unverantwortlich, Menschen in Lebenskrisen so viel Druck zu machen, denn Positivität hat sehr viel mit guten Perspektiven zu tun- und mit Verlaub- müsste es nicht besser sein diese zu finden, anstatt die Positivität allem vorweg zu nehmen?

Deshalb mein Nachtrag:
Jedes Gefühl hat seine Berechtigung. Hilflosigkeit, Frust, Wut und auch Angst.
Jedes Gefühl hat seinen Moment. Zu Beginn einer Diagnose anders, als im Verlauf.
Das Leben ist ein Paket aus allem und aus jedem dieser Gefühle wachsen andere Möglichkeiten.
Mut, Durchhaltevermögen, ein „über den Dingen stehen“, Grenzen setzen-
all das passiert nicht, wenn immer „gut“ ist, sondern erst dann, wenn es dir schlecht genug geht, Dinge zu deinem Gunsten zu ändern, oder du deshalb bereit bist, Perspektiven zu wechseln.
Ein ernst gemeintes: „Es geht mir gerade schlecht.“, hat deshalb viel mehr Potential zu etwas Gutem zu werden, als eine halbherzige, dahergeredete Positiv-Parole auf Halbmast.

Du kannst wieder glücklich werden, Lektionen lernen, dein Leben neu strukturieren, umwerfen, neu zusammenpuzzeln und daran wachsen und auch das geht nicht, wenn du verstrahlt im positiven Stillstand stehst. Positiv zu sein und gleichzeitig auch mal Angst zu haben, oder wütend zu sein widerspricht sich nicht. Es ist ein bisschen wie in der Liebe: man liebt sich, und ein Streit ist trotzdem okay und stellt nicht die ganze Beziehung in Frage. Wir tolerieren so viel von außen, nur uns selbst gestehen wir diese Ambivalenz so häufig nicht ein.


Der Honig- das verrate ich dir- hängt über dir.
Er fällt runter- aber manchmal muss man dafür auch wütend gegen den Baum treten.


Ps. Hat dir der Artikel gefallen? Dann schmeiß mir gern ein Trinkgeld in meine Kaffekasse.
Darüber freue ich mich sehr. Zur Kaffeekasse geht es hier entlang.

Hier noch ein passender Beitrag zum Thema aus meinem Instagram Feed:

3 Kommentare zu „2022 Toxische Positivität

  1. Ich bin bei allem was du schreibst total bei dir. Ich bin nicht erkrankt, habe es aber zu oft erleben müssen, in der Familie. Du weißt bestimmt, dass ich deine positive Art so schätze und dein Wesen so unfassbar erfrischende finde. Ich schätze und mag dich so sehr. Aber was ich nie verstehen werde ist der Auspruch, ;das beste was mir passieren konnte ist der Krebs.; Sorry aber ich brauche den nicht um zu wissen, das Leben schön sein kamn. Natürlich nörgeln wir alle auf hohem Nivea und sind zu oft unzufrieden. Aber ich brauche keinen Krebs um das zu erkennen. Aber was ich noch sagen möchte, du bist für mich ein lächeln am Morgen, du schreibst so unfassbar schön und du erzähst so humorvoll. Das ist eine besondere Gabe. Alles in allem, es ist schön das es dich gibt..♥️

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