
Manchmal sitze ich hier und überlege, welche Themen mich nachhaltig beschäftigt haben und bringe sie hier zu Papier.
Viele davon versanden ein bisschen, denn sie sind recht privat- und je privater die Themen, desto kritischer nehme ich Berichte auch unter die Lupe.
Heute glaube ich nicht mehr alles, was geschrieben wird.
Auch nicht zum Thema Umgang und Leben mit Krebs (oder, wie es modernerweise heißt: Mindset).
Ich lese die Berichte, die – je privater ein Thema wird-, desto weniger aus dem Herzen gesprochen werden und sich hinter einer fachlichen Fassade verstecken.
Schwer greifbar für jemanden, der absolut emotional geladen auf Lösungssuche geht und sich plötzlich durch Literatur über Zervixschleimproduktion und chemische Prozessen im Uterus lesen muss.
Ich springe deshalb über meinen Schatten und erzähle euch ein bisschen über meine Erkenntnisse zum Thema Sexualität und Krebs.
Es ist 2018- die erste Januarwoche.
Die Haare sind ab, ich bin knappe drei Wochen frisch verheiratet und bekomme meine zweite Chemotherapie.
Ich hatte den ersten Schrecken der Diagnose verdaut, komme nach den Feiertagen ein bisschen zur Ruhe und spüre hier und da einen Funken Zuversicht.
Ich war bereit darüber zu lesen, wie andere Frauen und Mütter mit ihrer Diagnose umgegangen sind und nahm ein Buch zur Hand, das mir empfohlen wurde.
Nach einigen Seiten legte ich das Buch zur Seite, und heulte Rotz und Wasser.
„Was stimmt mit mir nicht?“, dachte ich. „Mein armer Mann!“, war der nächste Gedanke und:
„Ich bin entstellt und unweiblich as hell!“
Was dieses Buch mir auch nachhaltig gesehen angetan hat, traue ich mich nicht auszusprechen und es dauerte Jahre (und ehrlicherweise sitze ich noch immer am Thema), um diese Wunden zu heilen, die mich in einem der sensibelsten Momenten meines Lebens so unfassbar verletzt haben.
Heute glaube ich keins davon.
Ich fasse mich kurz:
Die Autorin fühlte sich während ihrer Chemotherapie unfassbar schön (ich nicht), benutzte ihre sexuelle Energie als Ausgleich und ging förmlich darin auf (ich nicht) und weil es ihren Stressabbau so gut tat, hatte sie viel (manchmal mehrmals am Tag), qualitativ guten („keine Kompromisse mehr“),
kreativen („wenn nicht jetzt, wann dann?“) Sex, der natürlich ihre Partnerschaft auf ein neues Level brachte.
Ich versuchte mich krampfhaft daran zu erinnern, wann ich das letzte Mal Sex hatte, und obwohl ich aus meiner Sicht eine gesunde Sexualität hatte, ist es mir nicht auf Anhieb eingefallen.
Die kommenden Wochen (es waren Monate), hatte ich mehrere Operationen, war eingeschränkt in meinen Bewegungen, schlichtweg erschöpft von meiner andauernden Therapie, erkannte mich irgendwie nicht in meinem Körperkonstrukt wieder, oder beschäftigt mit den Wechseljahren und den Veränderungen meines Körpers.
Ich sage wie es ist: die Versuche, die ich unternahm erfüllten mich nicht. Sie machten mich traurig.
Krebs verändert alles- bei jedem anders- und das gilt auch für die Sexualität.
Die Zeilen aus dem Buch begleiteten mich und ich hatte ein unfassbar mieses Gefühl, bei dem die kleinste Ursache in meinen Schleimhäuten lag.
Ich spreche offen über meine Erkrankung und so bemerkte ich, dass auch andere ein Bedürfnis nach ehrlichem Austausch suchten.
Und so kamen Fragen, die natürlich immer persönlicher wurden, und die ich abwehren musste, weil sie einen Bereich offenlegten, der ganz und gar brach lag und es bei jeder Frage unangenehm piekste.
Ich setzte das Thema Sexualität zunächst auf die Blacklist, weil ich mich schämte darüber zu sprechen.
Ich wollte keine ungefragten Ratschläge, ich wollte kein Mitleid und ich wollte auch meinen Mann nicht in eine unangenehme öffentliche Situation bringen, indem ich gemeinsame und intime Hürden preisgab.
Diese Fragen haben mich immer sehr überfordert.
Ich wollte so gern die Frau aus dem Buch sein, aber -verdammte Axt nochmal- ich war es nicht.

„Das, was uns gerade passiert ist eine Katastrophe und wir sind mittendrin.
Stell dir mal vor, es stürzt ein Flugzeug ab und es gibt Überlebende. Sie kommen aus dem Staub durch die Trümmer und werden mit einem Mikro vorm Mund von Reportern begrüßt.
Eine der ersten Fragen: „Sagen Sie, wie verhält es sich eigentlich mit Ihrer Sexualität?““, witzelte meine Freundin, als ich ihr sagte, wie grenzüberschreitend ich manche Fragen fand
(was in meinem Fall natürlich keine Reporter, sondern Ärzte waren).
Und natürlich möchte ich Krebs nicht mit anderen Katastrophen vergleichen. Äpfel, Birnen und so.
Das obliegt mir nicht.
Aber in Wirklichkeit hat mich genau dieser Vergleich mit mir versöhnt:
Vielleicht ist es völlig okay mitten im freien Fall gerade nicht an Sex zu denken.
Das gilt für Flugzeugabstürze genauso wie für die Akuttherapie einer Krebserkrankung.
Und als ich so versöhnt mit mir dasaß und das Thema mich trotzdem nicht losließ, fragte ich mich:
Warum packen wir eigentlich tausend kleine Themen in einen großen Begriff?
Sexualität.
Wenn ich mir also selbst sage: „Meine Sexualität hat sich nachhaltig verändert und ich fühle mich damit nicht wohl“, was meint man wohl damit?
Sexualität ist so ein komplexes, vielseitiges Feld und ich bin mir sicher, dass wir Probleme nicht verändern können, wenn wir sie nicht benennen.
Sexualität ist viel zu allgemein und niemand, wirklich niemand kann aus „Bei mir läufts nicht gut.“ eine Lösung ableiten.

Und obwohl wir es eigentlich wissen, hilft es doch, sich die vielen kleinen Ursachen für sich vor Augen zu führen. Wo könnten Probleme mit der (eigenen) Sexualität mit und nach Krebs verankert sein? Und noch wichtiger:
Gibt es für diese genaue Ursache vielleicht eine Lösung, zu der ich aktiv beitragen kann?

- Trockene Schleimhäute
- Bewegungseinschränkungen (Narbengewebe/Wunden)
- Gefäßveränderungen
- Endokrine Ursachen
- „keine Ausdauer“- Schweratmigkeit, „wattige Beine“
- Empfindungsstörungen
- Hitzewallungen
- Schmerzen (Bewegungsapparat, Tumorschmerzen, Bestrahlungsschmerzen, Wundschmerzen….)

- Sorgen
- (Todes-) Ängste
- depressive Verstimmungen
- psychische Ursachen/Krankheiten/Symptome
- Trauer
- Wahrnehmungs-/Anpassungsstörungen der Eigen- oder Gesamtsituation
- Verschobenes Selbstbild/Selbstakzentanz
- Projektion
- Scham

- Partnerschaft (Schuldgefühle/Angst vor Ablehnung)
- keine Partnerschaft (Angst vor Einsamkeit)
- Wenig Privatsphäre
- Angst vor Neugestaltung von Lebensentwürfen (Fertilität)

- Hemmungen bei der Kommunikation (Was gefällt mir? Was hat sich verändert? Was fühlt sich angenehm/unangenehm an?)
- Vergleiche („Früher war alles besser.“)
Ihr seht- Partnerschaft und Sexualität mischt sich thematisch. Deshalb ist es allem voran eigentlich erst einmal unumgänglich zu differenzieren, wie es sich mit der Sexualität zu sich selbst verhält und ob es erkennbare Einschränkungen gibt.

Sexuelle Veränderung ist übrigens (und besonders bei Krebserkrankungen!) kein Indiz dafür, dass in der Paarbeziehung etwas nicht stimmt (oder in der Beziehung zu sich selbst).
Und es ist auch nicht immer behandlungswürdig. Es ist normal, auch wenn man es ungern und selten zugibt.
Und es ist kein Thema, das ich mit meiner Nachbarin am Obststand auf dem Markt besprechen würde.
Hinter der Sexualität steckt unfassbar viel Druck- den größten davon machen wir uns selbst.
Hört man auf allgemeine Ratschläge, bekommt man häufig den Tipp
„einfach mal machen, dann klappt das schon!“
Und genau diesen Ratschlag gebe ich nicht und bitte euch, genau das zu hinterfragen.
Sexualität sollt keine Überwindung sein, kein Zwang, und kein Qualitätsmerkmal eines funktionierenden Organismus.
Es geht nicht um den Akt, sondern um Gefühle und körperliche Funktionen.
Beim „einfach machen“ übergeht ihr euch selbst und jede/r sollte entscheiden, ob es das wert ist.
Was ich sagen wollte: Ihr ordnet gerade euren ganzen Alltag, Strukturen und Lebensentwürfe neu- aber beim Sex soll alles beim Alten bleiben?
Manchmal passt Altes nicht mehr- Neues klemmt noch- aber Gewohnheiten finden sich.
Sich darauf einzulassen ist nicht leicht- es lohnt sich aber, weil ihr es euch wert sein solltet.
In einem stimme ich der Autorin des Buches nämlich durchaus überein: Keine Kompromisse mehr.
Auch nicht in der Sexualität, wie wir selbstbestimmt leben dürfen- auch, wenn sie von anderen Umständen behindert wird.
Kein Bedürfnis zu haben, ist auch ein Bedürfnis und es ist genauso viel wert, wie die Lust eures Gegenübers. Vergesst das nie-, nie-, niemals.
Viele Patient:innen berichten auch darüber, dass sie sich von ihren Partnern abgelehnt und nicht begehrenswert fühlten (das gilt auch für potentielle Partner- also auch für Singles!)
Das macht die Partnerschaft nicht zu einer schlechten- und auch das wird oft vergessen und übergangen.
Auch Partner:innen leiden als Angehörige mit.
Auch sie haben Ängste, Sorgen- und ich bin mir sicher, dass wir die Unlust nicht persönlich nehmen dürfen.
Das, was ich jetzt schreibe, tut vielleicht weh:
Aber ja- vielleicht (!) sind wir für unsere Partner in der Akuttherapie nicht begehrenswert.
Vielleicht haben sie Ängste uns zu berühren, vielleicht wollen sie uns nicht wehtun, vielleicht müssen sie sich auch an optische Veränderungen gewöhnen.
Dass dort, wo früher ein vertrauter Körperteil war, eine Narbe ist müssen unsere Partner nicht auf Anhieb sexy finden- man muss sich erst einmal wieder kennenlernen dürfen.
Wenn wir aus den Trümmern des Flugzeugs steigen, haben wir die Partner an der Hand. Sie werden dabei nicht von Ärzten gefragt, wie sich ihre Sexualität verändert hat. Niemand fragt sie das.
Viele von uns fühlen sich selbst während einer Therapie nicht wohl und entfremdet- und auch das sollten wir auch unseren Partnern eingestehen, ohne es persönlich zu nehmen.
Das ist schwer und das tut weh- aber auch sie haben die gleichen Ängste, die es schwer machen eine unbeschwerte Sexualität zu leben.
Und wisst ihr- es macht Partner und Singles, die Berührungsängste haben, nicht zu schlechten und unloyalen Wesen.
Sie sehnen sich auch nach den guten Zeiten, ohne Krebs, ohne Ängste und einer unbeschwerten Kissenschlacht im Bett.
Es fällt ihnen aber vielleicht schwer, genau diese Unbeschwertheit vor der Schlafzimmertür zu lassen.
Mit Abstand betrachtet verstehe ich das.
Früher habe ich das nicht gesehen und fühlte mich nicht begehrt, abstoßend und weniger geliebt.
Ich wurde aber nicht weniger geliebt. Sexualität ist ein Themenspektrum voller Missverständnisse.
Gespräche darüber tun unfassbar weh. Und gleichzeitig können sie langfristig heilsam sein.
Liebe kann zerbrechen, aber versucht daran zu glauben, dass sie auch wachsen kann.
In einigen körperlichen Fällen gibt es Hilfsmittel (Gleitgele, Feuchtigkeitsgele), wenn jedoch die Ursache des Missempfindens und die Motivation der Sexualität in den Schuldgefühlen verankert ist, nützt euch das beste Gleitgel nichts.

Und manchmal, da helfen Umarmungen, Zuwendung,
Küsse (seid ehrlich: Wann habt ihr das letzte Mal wild geknutscht?)
Und manchmal, da muss man mal raus, ein Abendessen, ein Date, ein Glas Wein.
Und manchmal, da möchte der Kopf, aber der Körper nicht und manchmal ist es umgekehrt.
Und manchmal muss man die Geduld aufbringen, bis die Zeit euch Raum zum Atmen und genießen gibt.
Sexualität ist nicht „einfach weg“, weil ihr Krebs bekommen habt- unterschätzt den Körper nicht.
Unlust oder Empfindungsstörungen die kommen häufig, weil der Körper und ihr selbst gerade andere Dinge voranging bearbeitet. .
Manchmal hilft schlichtweg Zeit.
Meine eigene Sexualität ist anders seit 2017.
Zu mir selbst- und auch in meiner Partnerschaft und manchmal vermisse ich Dinge, wie sie früher waren- und auch das ist okay, wenn man bedenkt, dass ich an meinem Brustkorb eben kein Gefühl mehr habe.
Es war schwer für mich auszuhalten, dass die Sexualität auf „hold“ war, während ich die emotionale und körperliche Nähe eigentlich gebraucht habe.
Die Körperlichkeit hat aus vielen der oben genannten Gründe nicht so erfüllend funktioniert, wie ich es brauchte- völlig gegensätzlich zu dem Bedürfnis, das sich später wieder entwickelt hat.
Heute habe ich einen Weg gefunden- aber viel wichtiger ist: Ich habe die vielen kleinen Ursachen herausgepuzzelt und wieder zusammengesetzt.
Ich fühle mich nicht mehr spontan-sexy, aber ich kann relativ unkompliziert machen, dass ich es bin.
Es ist nicht wie früher- es ist eben anders- und das ist eigentlich auch ganz schön so!
Sexualität ist mehr und nur du selbst bestimmst, was genau das eigentlich bedeuten kann.
An dieser Stelle schweige ich. Und genieße und wünsche euch sehr, dass ihr einen Weg findet, auch, wenn man erst einmal den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht.
Die Person, die ihre eigene Geschichte schreibt bist du selbst.
#ichweißwasdumachstwenndusturmfreihast #knutschen #sexistkeinewissenschaft #gefühle
#loveisintheair
Alles Liebe,

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Darüber freue ich mich sehr. Zur Kaffeekasse geht es hier entlang.
Pps. Sind Ursachen irreversibel helfen euch (und euren Angehörigen) Ärzt*innen, Beratungsstellen oder Psychotherapeut*innen mit offenem Ohr individuell, ohne Wertung und ohne Scham weiter.
ich bin nicht nur hier eine leidenschaftliche Mitleserin deiner Sätze…(Instagram)
Danke für deine Offenheit und Punkt. Mir ging und geht es ähnlich. 🤍
Hab weiterhin eine gute Zeit❕
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Du triffst es mal wieder auf den Punkt.. Dieses ‚alles ist wie immer, mach einfach‘ oder ‚Hurra, ich bin so dankbar‘ oder auch einfach das totschweigen ist einfach zum Kotzen. Und übergriffige Bemerkungen gibt es nicht nur von Nichtbetroffenen.
Danke dir ❤️
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Danke für deine so ehrlichen Worte & deine Offenheit liebe Paulina👍🏻
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